Perspektiven bekennender Christen heute
von Pfr. Hermann Traub
I.) Der neue fundamentalistische Liberalismus
Seit
mehr als 200 Jahren lebt die Gemeinde, leben die Kirchen, mit dem
theologischem Liberalismus. Dies hat nicht zuletzt zu einem Aufbruch des
Pietismus auf vielen Gebieten geführt. Der Aufbruch, der vor etwa 300
Jahren in der Kirche begann, ist heute immer wieder neu das
Hoffnungszeichen lebendiger Gemeinde. Die Innere Mission hat ihre
Wurzeln in der Erweckungsbewegung des Pietismus. Der Liberalismus hat
trotzdem die Kirchen geprägt. Er gab sich nicht immer tolerant,
besonders, wo er die Macht hatte, seinen Einfluss bei Regierungen
geltend zu machen. Heute, so beobachte ich, trägt dieser alte
Liberalismus mehr und mehr autoritative, wenn nicht autoritäre Züge.
Früher
konnte man christliche Fundamentalisten in extremen Gemeindegruppen
ausmachen. Bis heute zeigen sie sich dadurch, dass sie ihr
Bibelverständnis über die Bibel stellen und so ihre Festlegungen
treffen. Was man früher und heute solchen „frommen“ Fundamentalisten mit
Recht vorwirft, geschieht heute durch liberale und bibelkritische
Kräfte in gleichem Verhaltensmuster. Das eigene Bibelverständnis wird
über das sich selbst auslegende Bibelwort gestellt.
Es hat sich
mit dieser Haltung ein Fundamentalismus herausgebildet, der andere
Meinungen, Kritik und Ermahnung der glaubenden Gemeinde unbeirrt
ignoriert und teilweise mit autoritären Mitteln bekämpft. In folgenden
Feldern sehe ich diesen „neuen“ liberalen Fundamentalismus:
1.) Verleugnung des Sühneopfers Christi
Die
Negierung des Sühneopfers Jesu wird in weiten Teilen der
Theologenschaft verkündet. „Gott braucht keine Opfer – er ist ja ein
Gott der Liebe.“ Damit wird zur leeren Religionsformel, was beim
Abendmahl gesagt wird: „Christi Blut für dich vergossen.“ Nicht nur,
dass Gottes Heilshandeln der Versöhnung abgelehnt wird, das er durch das
bittere Leiden und Sterben Jesu gegeben hat – viele Schriftstellen
werden ausgeblendet und ihrer Aussage beraubt. Dieses Handeln richtet
sich gegen alle noch immer geltenden Bekenntnisse und Grundordnungen der
Kirchen.
2.) Ablehnung der Judenmission
Die
Weitergabe des Evangeliums von Jesus, dem Messias, an die Juden wird
weithin strikt abgelehnt. Der oberste Repräsentant der EKD tut dies sehr
offen. Damit verlässt die Kirche den Auftrag der Schrift, der in Römer
1, 16 festgelegt ist: „…die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Die
Stimmen der auch in Deutschland wachsenden messianischen Gemeinden
werden überhört, teilweise unterdrückt und sogar theologisch mundtot
gemacht. Dies ist ein der Bibel widersprechender Fundamentalismus.
3.) Psychologische Lebensbewältigung statt Evangelium
Viele
bezahlte und ordinierte Verkündigerinnen und Verkündiger legen nicht
mehr Gottes Wort aus, sondern schöpfen aus Bibeltexten allgemeine
psychologisierende Reden zur allgemeinen Lebensbewältigung. Reine
Innerweltlichkeit auf den Kanzeln! Das Wort Gottes ist nicht mehr das
Rettungswort, sondern Lebenshilfewort. Dass Jesus Christus „von Gott
gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur
Erlösung“ (1. Kor. 1, 30), das ist kaum mehr Gegenstand der
Verkündigung. Statt Auslegung des Wortes Interpretation des Lebens – das
ist ein neuer Fundamentalismus.
4.) Ablehung der biblischen Maßstäbe hinssichtlich der Sexualität
In
den sexualethischen Fragen wird Gottes Wort ausgehebelt. Ihm
widersprechende Lebensweise wird als mögliche Schöpfungsvariante
gehandelt. Was Gott strikt in seinem Wort verneint, wird eingesegnet,
als sei Gottes Segen eine uns verfügbare Masse, über die wir selbst
bestimmen könnten. Menschen, die in homosexueller Partnerschaft leben,
haben vollen Zugang zum Amt der Seelsorge und Verkündigung. Einzelne
Kirchenvertreter fordern sogar das volle Adoptionsrecht solcher Paare.
Künstlich befruchtete Frauen in homosexueller Partnerschaft werden nicht
nur kirchlich akzeptiert, sondern sogar bejubelt. Ein gottferner, dem
Wort Gottes widersprechender Fundamentalismus!
5.) Israel als Friedensfeind
In
der heiklen politischen Nahostfrage wird von den liberalen
Fundamentalisten der Feind des Friedens schnell ausgemacht: es ist der
Staat Israel, der sich mit militärischen Mitteln wehrt, eine Grenzmauer
mitten durchs Land gezogen hat und nicht zum Frieden bereit ist.
Ausgeblendet wird der Judenhass, der sich weltweit breit macht.
Ausgeblendet wird die Drohung der Vernichtung Israels durch
Staatsführer. Damit arbeitet man, theologisch untermauert, den
Antiseministen weltweit zu, in blinder politischer Stellungnahme. Dass
Gott selbst sein Volk als eigener „Augapfel“ in seinem Wort beschreibt,
wird überhört, und man legt sich selber politisch einseitig fest. Auch
wenn Christen sich niemals mit Krieg und Blutvergießen abfinden können
und dürfen, kann dem Volk Israel nicht verboten sein, um sein
Lebensrecht zu kämpfen. Wer dies ablehnt, widersteht in einem selbst
gewählten Fundamentalismus Gottes Wort.
6.) Synkretismus und Ablehnung echter Mission
Seit
einiger Zeit ist in Theologenkreisen, unter dem Einfluss von
Persönlichkeiten des Ökumenischen Rates der Kirchen, von der „Ökumene
Gottes“ die Rede. Gemeint ist, dass alle Religionen einen Gott haben,
den sie auf verschiedene Weise ehren. Damit wird zentrale
neutestamentliche Wahrheit beiseite gestellt. Jesus ist nicht mehr die
einzigartige Wahrheit, ohne die niemand zu Gott kommen kann. Bereits
kommt es seit längerer Zeit zu interreligiösen Feiern und zu
Handreichungen dafür. Selbstverständlich wird hier der Auftrag zur
Mission völlig ausgehebelt, und die weltmissionarischen Aktivitäten der
Christenheit werden infrage gestellt. Ein Fundamentalismus, der zum
blanken Synkretismus führen wird!
7.) Ausgrenzung gläubiger Mitarbeiter
Der
tragenden und sich Gottes Wort allein verpflichteten Mitarbeiterschaft
im Ehrenamt, aber auch im Vollzeitdienst, mutet man Faustschlag um
Faustschlag ins Gesicht zu, macht ihre Haltung nicht nur zur
Außenseitermeinung, sondern tritt alle ihre Werte mit Füßen. Man
verbietet ihnen Rederecht und Widerspruch. Und dies ist dabei das Neue:
ohne Skrupel, mit vollem Bewusstsein. Kirchenleitungen und ihre
Vertreter gehen ohne Gewissenbelastung das Risiko ein, dass eine
Abstimmung mit den Füßen geschieht und viele, besonders Ehrenamtliche
die Kirche verlassen – mindestens sich anderen, meist freien Gemeinden
anschließen. Dieser ideologisch festgelegte Fundamentalismus hat
Kirchenleiter und viele Ordinierte erfasst.
Gibt es Hoffnung in
dieser Situation? Ja. Wie in alten, liberalen Zeiten der Kirche geht die
glaubende Gemeinde ihren zielklaren Weg: das ganze Evangelium, der
ganzen Gemeinde, der ganzen Welt. Neue Aufbrüche sind immer aus einer
Minderheitenstellung gekommen. Die heute noch so fest stehenden Frauen
und Männer, die den oben beschriebenen Fundamentalismus verkörpern,
haben wie alles ihr Verfallsdatum schon aufgeprägt.
II.) Welche Perspektiven haben wir?
2.1 Lebendiger Gottesdienst
Der
Gottesdienst ist Dreh- und Angelpunkt der Gemeinde. Er unterliegt immer
wieder neuen Ideen. Das Jahr der Kirchenmusik tut das Übriges dazu. Wo
eine junge Generation daran beteiligt ist, wird vielfältig
experimentiert. Neues Liedgut ohne Ende wird auf den Markt geworfen. Die
Qualität ist unterschiedlich. Viele Anbetungs- und Jesuslieder sind
darunter. Selbst eingefleischte Verfechter neuer Lobpreismusik ermahnen
eindringlich, die älteren Lieder nicht in den Hintergrund zu drängen.
Manchen gelingt eine gute Mischung, die die Schätze nicht verspielt und
das Neue nicht außen vor hält.
Doch die Mitte des reformatorisch
geprägten Gottesdienstes ist die Wortverkündigung. Die ist nicht nur
durch eine liberale Theologie gefährdet, sondern durch eine völlig
theologiefreie Oberflächlichkeit, die sich als fromm ausgibt. Mit
liberaler Theologie kann man umgehen. Aber mit Frömmigkeit ohne Jesus
und Theologie, ohne deutlichen Wortbezug sind wir total im Schwimmen.
Die einzige Gegenmaßnahme ist, dass wir wieder Ausleger des Wortes
werden, bekommen und heranbilden, die unter Gottes Wort stehend es
erschließen für unsere Zeit. Viel Frömmigkeit in der Jugendarbeit geht
auch ohne Wort Gottes.
Ich habe 17 Jahre lang die
Jugendbibelesehilfe „Start in den Tag“ redigiert. Wie viele fromme
Gedanken wurden hier abgeliefert! So dass sogar Jugendliche uns bei
Auswertungen geschrieben haben, dass sie mehr Substanz wünschen und ihre
Fragen an den Text beantwortet werden müssten. Wir haben dann
angefangen, zum Anfordern Predigten anzubieten. Oft sind Hunderte von
Manuskripten angefordert worden. Nur Predigten. Kein Beiwerk. Nur Text.
Wir sind einig, dass es immer auch um die packende und aufrüttelte
Predigt geht. Aber sie muss wieder Bibelauslegung sein. Und nur eine
lebendige Bibelpredigt lohnt, dass Menschen kommen und hören. Die Zeit
der interessanten Kanzelreden muss überwunden werden. Christen und
Menschen auf der Suche brauchen biblisches Schwarzbrot.
Der
Wittenberger Dozent Johann Olearius hat es 1671 in seinem Lied sehr
klassisch gesagt: “Dein Wort bewegt des Herzens Grund, dein Wort macht
Leid und Seel’ gesund, dein Wort ist’s was mein Herz erfreut, dein Wort
gibt Trost und Seligkeit.”
2.2 Lehre dein Volk
Wir
leben ja in einer Zeit der Glaubenskurse. Viele dieser Kurse sind zum
Glauben hinführend. Eine ganze Reihe sind aber infiltriert mit einer
Theologie, die man nicht biblisch fundiert nennen kann. Was fehlt heute
und wozu möchte ich ermutigen?
Wir müssen die altkirchlichen
Bekenntnisse wieder ins Licht rücken, ganauso die Barmer Erklärung. Auf
viele aktuellen Fragen haben die Väter der alten und neuen
Bekenntniszeit sehr treffende Antworten gefunden. Die Bekenntnisse sind
die erste kompetente Theologie und Bibelauslegung. Dass sie außer
Papierwert kaum Leitfaden in Theologie, Kirchenleitungen und
Gemeindepraxis sind, das ist tragisch. Dies zu beklagen ist das eine.
Das andere ist, diese Bekenntnisse neu zu nützen.
Predigtreihen
könnten daraus konzipiert werden. Glaubensgrundkurse könnten daraus
entworfen werden. Ganze Bildungswochen können entstehen. Die Arbeit mit
55+ – einer wissensdurstigen Generation – , kann sich vertiefen in die
Bekenntnisse. Hier sind Schätze zu heben, die nahezu unauslotbar da
liegen. Es bringt nichts, wenn wir uns beklagen über eine bekenntnislose
Kirche. Die Basis der Gemeinde muss anhand der Bekenntnisse mündig
gemacht werden. Wir als Bekenntnisbewegungen stehen oft
mutterseelenallein im Kampf. Noch werden einige uns auf die Schulter
klopfen für unseren Mut. Das nützt aber nichts, gar nichts! Wenn wir
nicht mehr die Basis der Gemeinden zurüsten, bibelklar und
bekenntnisfest zu sein. „Die da lehren, werden leuchten wie des Himmels
Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und
ewiglich.“ (Daniel 12, 3)
3. Außenimpulse setzen
Gemeinden
und Werke können nicht aus eigenem Antrieb in die Zukunft gehen. Wir
bewegen uns immer nur in dem, was wir kennen. Und keine Gemeinde kann
sich etwas wünschen, was sie nicht kennt. Deshalb sind die Netzwerke
sehr entscheidend, ob wir in unseren Gemeinden vorwärtskommen. Das fängt
in der Jugendarbeit an: Junge Christen brauchen die Außenkontakte. Sie
müssen andere junge Christen erleben im CVJM, im EC, in Jugendtreffen
und Mitarbeiterschulungen. Das geht hinein in die Gemeinde. Wir Pfarrer
müssen manchmal die Kanzel frei geben für neue Impulse von anderen.
Bibelwochen
bitte nicht durch die eigenen Pfarrer. Sondern Referenten von außen
holen. Besondere Gottesdienste sollten auch einen neuen und
überraschenden Prediger haben. Bei Gemeindefreizeiten einen Referenten
von außen gewinnen. So sehe ich auch ProChrist 2013 wieder. Der Impuls
von außen ändert die Gemeinden innen. Allein das Sich-Einstellen auf
eine neue Formen auf neue Töne und Zeugnisse haben verändernde Kraft.
Wir sind doch als Pfarrer und Verantwortliche keine Gralshüter. Wir sind
im besten Fall Hirten. Und die führen immer wieder an neue Quellen und
frisches Wasser und grüne Weide. Manchmal muss ein Pfarrer nur mal
wieder Leute mitnehmen zu Neuem. Er muss ein guter Transporteur sein zu
Orten, wo das Evangelium mal anders gesagt wird!
4. Liederschätze heben
Von
einem Freund habe ich gelernt, Lieder nicht nur singen zu lassen
sondern ihre Autoren- oder Entstehungsgeschichte mit zu erzählen. Was da
zutage kommt, das sind wunderbare Schätze, Geschichten, Zeugnisse. ich
erlebe und singe die Lieder ganz anders, wenn ich ihre Geschichte weiß,
was ihr biblischer Bezug ist usw.
5. Wie wird aus Patchwork eine Bewegung in und für die Kirche?
Haben
die missionarischen, pietistischen, evangelikalen Sammlungsbewegungen
eine Chance, unsere Kirche zu verändern? Besonders in der Zeit des
„liberalen Fundamentalismus“, der sich autoritär und oft totalitär
gebärdet? Da stellen sich Kirchenleiter hin und erklären der Gemeinde,
dass eine verbindlich gelebte homoerotische Partnerschaft keine Sünde
sei. Römer 1 müssen sie dann herausreißen aus der Bibel, wenn das so
ist. Sie führen durch die Hintertüre der Theologie ein neues Lehramt der
Kirche ein, dass das Bibelwort sich nicht selbst auslegt, sondern
allein dastehend zum Aberglauben führen kann.
Kaum einer steht
dagegen auf. Ein paar versickernde Leserbriefe in idea ersetzen nicht
unsere Verpflichtung, die wir als Ordinierte eingegangen sind –
zumindest in den lutherisch geprägten Kirchen. Dort haben wir uns
verpflichtet (CA Artikel 28): “Wo das geistliche Regiment etwas gegen
das Evangelium lehrt oder tut, haben wir den Befehl, dass wir ihm nicht
gehorchen (Matthäus 7,15; Galater 1, 8; 2. Korinther 13, 8). Wo es
Kirchenordnungen und Zeremonien einführt, dürfen sie nicht wider das
Evangelium sein.”
Wir brauchen in Deutschland eine
Bekenntnissynode. Alle Kräfte müssen sich zusammenfinden die unsere
Kirchen in großer Gefahr sehen. Der Begriff ist umstritten – aber weil
er so klar umstritten ist, ist er geeignet.
Viele Fragen sind
dabei offen: Wer ruft diese Synode zusammen? Beim wem kristallisiert
sich das Vertrauen Vieler? Wo ist die junge Theologengeneration, die uns
Ruheständler ersetzt?
Jesu, hilf siegen und laß mich nicht sinken;
wenn sich die Kräfte der Lügen aufblähn
und mit dem Scheine der Wahrheit sich schminken,
laß doch viel heller dann deine Kraft sehn.
Steh mir zur Rechten, o König und Meister,
lehre mich kämpfen und prüfen die Geister.
Jesu, hilf siegen im Wachen und Beten;
Hüter, du schläfst ja und schlummerst nicht ein;
laß dein Gebet mich unendlich vertreten,
der du versprochen, mein Fürsprech zu sein.
Wenn mich die Nacht mit Ermüdung will decken
wollst du mich, Jesu, ermuntern und wecken.
Die
Gemeinde wird im „Beten und Tun des Gerechten“ ihren Weg finden, auch
gegen ihre innere Bedrohung, die sich so frech brüstet und alle
Warnsignale zu überhören scheint. Wir beten „Kyrie eleison“. Wir
streiten mutig um die ewige Gültigkeit von Gottes Wort. Wir sehen unsere
Hauptaufgabe in der Weitergabe des frohen Evangeliums von Jesus
Christus, der sein Blut vergossen hat zu unserer Rettung vom Gericht
Gottes. Ihn hat Gott auferweckt. Er lebt und wird wiederkommen und jeden
zur Verantwortung ziehen.
Pfarrer Hermann Traub, 16. Juni 2012,
Vortrag anlässlich des Jahrestreffens der Mitglieder und Freunde des
Gemeindehilfsbundes in Walsrode-Düshorn.